Diskriminierung in der Nähszene
Seit einiger Zeit stoße ich bei Instagram vermehrt auf Hashtags wie #sewincolour, #sewinclusive, #curvysewing und viele mehr. Nicht besonders bemerkenswert, könnte man jetzt denken, das sind eben Hashtags. Aber tatsächlich sind diese Hashtags mehr, nämlich ein Ruf nach Aufmerksamkeit, nach Gesehen-werden-wollen. Wenn wir uns einen kleinen Moment überlegen, wer in der Nähszene und darüber hinaus im Handarbeitsbereich am meisten repräsentiert ist, hat sicher jeder ein Bild im Kopf. Und wenn wir uns nun fragen, ob dieses Bild mit den Menschen hinter #sewincolour, #sewinclusive oder #curvysewing übereinstimmt, dann werden vielen bemerken, dass das eher nicht der Fall ist. Ich habe nun einige Beiträge und Diskussionen zum Thema Diskriminierung in der Handarbeitsszene gelesen, die vor allem im englischsprachigen Raum aufgekommen ist. Daher wollte ich heute nur ein paar Worte darüber verlieren, da ich glaube, dass ich mit dem Sonntagsschnack einige Menschen darauf aufmerksam machen kann.
Body Positivity und darüber hinaus
Seit der Body-Positivity-Bewegung ist schon einiges passiert beim Thema Diskriminierung von Körperformen und Kleidergrößen. Viele Schnittmusterlabel überdenken ihre size range und erweitern die Schnitte für größere oder kleinere Größen und reflektieren ihr Handeln. In den letzten Tagen konnte ich das bei vielen Indiepattern-Designern beobachten (z.B. Helen’s Closet, Cocowawa, In the Folds u.a.). Helen von Helen’s Closet fragt beispielsweise ihre Kund*innen einfach selber, wie sie sich den Umgang mit den Größen vorstellen und welche Wünsche und Ansichten sie haben. Dabei ist der Dialog gewinnbringend für alle und man begegnet sich auf Augenhöhe. #sewinclusive geht aber auch über Kleidergrößen hinaus. Über Friday Pattern Company bin ich auf eine Thematik gestoßen, über die ich schlichtweg noch nie nachgedacht habe. Gibt es Schnittmuster für Trans-/ Nonbinary-/ Genderqueer-Menschen oder Schnittmuster(label), die sie berücksichtigen? Wieso teilen wir überhaupt die Schnittmuster in für Damen und für Herren? Was ist mit den Menschen, die sich damit nicht identifizieren und wer weiß, dass nur Frauen Kleider nähen und nur Herren den Hemdschnitt? Ein Label, bei dem es zumindest auch einen Unisex-Hosenschnitt gibt, ist z.B. Elbe Textiles. Ein anderer Ansatz ist #SewMenswearForEveryone von Sewcialists, um mit konventionalisierten Rollenbildern bei Kleidung zu brechen. Sprache spielt an dieser Stelle generell eine große Rolle. Sprechen wir immer von unseren Leserinnen, weil wir davon ausgehen, dass eh nur Frauen mitlesen oder sollten wir auf Blogs und noch wichtiger als Schnittmusterlabel auf eine Sprache achten, die alle Macher*innen mit einschließt?
#sewinclusive
Das Thema ist sicher noch lange nicht ausdiskutiert. Manche Designer wollen ihre Label vielleicht nicht von heute auf morgen umgestalten. Aber sie können darüber nachdenken. Und wenn Schnittmusterlabel, Blogger*innen, Kund*innen und Firmen ihren Umgang mit diesem Thema überdenken und reflektieren, könnten wir zusammen versuchen, einen Hashtag wie #sewinclusive überflüssig zu machen. Einbezug aller Menschen unabhängig ihrer Körperform, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder Religion sollte selbstverständlich sein, sodass sich alle Menschen gleichermaßen gut aufgehoben und repräsentiert fühlen.
Wer etwas weiter ins Thema einsteigen will, sollte sich bei den genannten Hashtags reinklicken (#sewtall, #sewqueer, #shortsewists u.a.) oder kann diesen Blogpost von Rare Device lesen, der einen Einblick in die Emotionalität und Relevanz des Themas gibt.
Ich weiß, dass das Thema emotional ist. Ich weiß, dass das Thema in unserer ganzen Gesellschaft relevant ist und ich weiß, dass sich viele Menschen unsicher sind, wie sie damit umgehen sollen. Ich denke, sich zu informieren und sensibilisiert zu werden, ist ein erster Schritt. Und dann ist es wichtig, und vielleicht am besten so wie Helen’s Closet es macht, alle Macher*innen einzubeziehen, um zu erfahren, wie sie sich den Umgang damit wünschen würden.
Ich bin auch offen für euer Feedback, wenn ich auf meinem Blog etwas anders machen kann, wenn euch wichtige Aspekte in der Diskussion fehlen oder wenn ihr eine ganz andere Meinung habt. Wenn ihr Links habt, über die wir uns weiter informieren können, dann schreibt sie gerne auch in die Kommentare!
Wie steht ihr zu der Diskussion? Findet ihr das Thema relevant?
Seid ihr vielleicht selber davon betroffen und was wünscht ihr euch von der Handarbeitsszene?
Was können Firmen und Label tun?
– unbeauftragte Werbung –
News
• DG Patterns hat das Schnittmuster Tanya rausgebracht. Das Shirt hat ein gerafftes Schößchen sowie drei verschiedene Ärmellängen, kurz, lang und Tulpenärmel.
• Von Lillesol & Pelle gibt es den neuen Raglanhoodie no. 39. Der Pullover hat zwei Kapuzen- sowie eine Kragenvariante. Der Hoodie hat an den Ärmeln eine dekorative Knopfleiste und kann auch in Kleidlänge genäht werden.
• Sara Dungarees heißt der neue Schnitt von Sew Over It. Die schlichte Latzhose hat ein ausgestelltes Bein, einen verdeckten Reißverschluss und ist für Stoffe wie schwerere Crepe-Stoffe konzipiert. Der Schnitt kann auch als Hose genäht werden.
• Ein neues Rockschnittmuster hat Leni Pepunkt veröffentlicht. Der Bleistiftrock ist ein klassischer enger Rockschnitt mit oder ohne Futter, mit verdecktem Reißverschluss und hinterem Gehschlitz.
• Von Pech & Schwefel gibt es ein neues Cardigan-Schnittmuster. Der Cardigan Dublin hat einen Schalkragen und kann mit einem Bindeband an der Taille zusammengebunden werden.
Tipps & Tricks
• Bei Fadenmaer gibt es eine niedliche Lamaapplikation zum kostenlosen Download.
5 Antworten
Liebe Fredi,
Danke, dass du über die Diskriminierung geschrieben hast. Ich finde das Thema sehr wichtig und hoffe, dass durch die aufgekommene Diskussion sich Designer und Frimen gedanken machen und Anpassungen vornehmen. Danke auch für die Links. Die ersten Anpassungen bei den Designern zeigen, dass die Diskussion auf jeden Fall etwas bewirkt. Das ist super und ich hoffe, dass in den kommenden Tagen und Wochen mehr davon zu sehen sein wird.
Liebe Grüße, Katharina
Nun ja. Die Frage, warum es Schnittmuster für Männer und welche für Frauen gibt, ist sehr einfach zu beantworten: Weil Frauen und Männer ganz andere Körperformen haben – das ist kein gesellschaftliches Konstrukt, sondern eine unabänderliche biologische Tatsache. Wenn es IRGENDEINEN Bereich auf dieser Welt ist, wo diese Unterscheidung sinnvoll ist, dann hier. Ich merke das, sobald ich ein Kleidungsstück für Herren anprobiere (die haben oft Muster, die mir besser gefallen; ich hasse alles, was in die romantische Richtung geht): Die Schultern sind zu breit, die Hüften zu schmal, an der Brust wirft es Falten, es sieht scheiße aus. Wobei es ja so gut wie alle Herrenkleidungsstücke auch für Frauen gibt (als Schnitt), umgekehrt nicht (mangels Nachfrage).
Bei Stoffen ist die Unterscheidung dagegen sinnlos. Und man darf sich natürlich darüber beklagen, dass es SEHR viel weniger Auswahl an Männerschnittmustern als an Frauenschnittmustern gibt (natürlich ist ein wichtiger Grund die viel geringere Nachfrage). Die weiblichen Formen bieten auch etwas mehr Anregungen, um ungewöhnliche Teilungsnähte und Formen umzusetzen. Allerdings ist das (tendenzielle) Desinteresse der Herren der Schöpfung an kreativer Kleidung natürlich eine ausschließlich gesellschaftliche Sache, wie man sofort bemerkt, wenn man sich mit historischer Kleidung auseinandersetzt (Augenkrebsfarben! Spitzenrüschen an den Hemden! Hohe Absätze! usw.).
Allerdings ist das eine Sache, die nur die Männer selbst ändern können.
Ein größeres Spektrum an Schnittmustergrößen begrüße ich sehr (aktuell suche ich vergeblich nach Schnittmustern, die groß genug für den Freund meiner Schwester sind; bei Frauen ist die Auswahl da, bei Männer gibt es quasi NICHTS jenseits der Gr. 60 – da werde ich wohl selbst so einige Größen nach oben gradieren oder selbst konstruieren müssen). Allerdings müssen Schnittmuster für große Größen anders konstruiert werden als für sehr kleine; es ist also keine Diskriminierung der Designer, dass sie nicht bis Gr. 72 oder so konstruieren, sondern es ist deutlich mehr Arbeit. Und: Wenn die Zielgruppe sehr klein ist, hat man ab einem gewissen Level viel Mehraufwand und wenig Nutzen daraus :-/ (grad bei Zeitschriften ist das natürlich ein Thema)
Bzgl. Diversität möchte ich an dieser Stelle aber unbedingt nochmal begeistert die Ottobre erwähnen, die Models in ALLEN Altersstufen (auch 70-Jährige), Körpergrößen (auch Frauen mit 1,50 m oder 1,85 m) und Kleidergrößen (ok, es geht nur bis Gr. 54, glaube ich, aber der Platz auf einem Schnittmusterbogen ist halt auch begrenzt :-/ ). Auch unterschiedliche Hautfarben (wobei die Zeitschrift aus Finnland kommt; ich weiß nicht, wieviele nichteuropäische Models man da so auftreiben kann). Ich bin jedes Mal hin und weg von der Vielfalt der Frauen darin 🙂
Ein großes Vorbild, finde ich. Natürlich gibt es die schlanken 1,75 m-Frauen, die darüber jammern, dass sie sich ja gaaar nicht vorstellen können, wie das Kleid, das von dem Gr. 48-Model präsentiert wird, an ihnen aussieht (ja, tatsächlich), aber darüber kann ich mit meinen 1,54 m nur müde lächeln und freue mich, wenn ich mal ein Model mit ähnlicher Größe sehe 🙂
Hey, danke für deinen ausführlichen Kommentar!! Den Punkt mit den größeren Größen für Männer finde ich interessant, da habe ich noch nie aktiv geschaut, wie es dort mit den Größen aussieht. Und auch die Ottobre war mir als gutes Beispiel gar nicht bewusst, da ich die Zeitschrift bisher nur ganz selten gekauft habe. Danke für den Hinweis, das werde ich mir auf jeden Fall genauer anschauen!
Ich kann dich auf jeden Fall auch verstehen, wie du die Unterscheidung der Männer- und Frauenschnitte siehst. Mein Ansatz ist auch gar nicht, dass es plötzlich nur noch Unisex-Schnitte geben sollte und alle Unterschiede im Körperbau ignoriert werden sollten. Ich denke eher daran, dass eben Menschen berücksichtigt werden sollten, die in dieses binäre System nicht reinpassen (wollen) und bspw. Herrenschnitte besser gefallen, aber (wie du auch sagst) zu sehr verändert werden müssten, um zu passen. Ich weiß nicht, ob ich mich diesbezüglich so gut ausdrücken kann, aber ich fand diesen Artikel dazu ganz interessant: https://thesewcialists.com/2019/01/18/gender-bent-sewing/
Was ich gut finde, dass viele Designer mittlerweile ausführliche Anleitungen und Hinweise zum Anpassen der Schnitte mitgeben. Das ist definitiv ein guter Schritt. Aber ich kann die Frustration sehr gut verstehen, wenn jemand nicht in die ‚Standardpassformen‘ passt und ewig viel ändern muss.
Liebe Grüße und danke fürs Teilen deiner Gedanken! 🙂
Und nähen wir nicht auch, um unsere Kleidung nach unseren Vorstellungen zu gestalten? Kann Mensch da nicht auch Schnittmuster X nehmen und zu Y umfunktionieren (oder andersrum)? Unisex Schnitte finde ich super, aber ich möchte auf keinen Fall auf Frauenschnitte verzichten- schließlich müsste ich sonst bei jedem Schnitt noch mehr abändern als sonst schon.
Hallo Fredi,
hier noch ein kleiner Gedankenanstoß über deinen Kommentar zu den Ottobre-Models: Die Aussage, dass es für ein finnisches Magazin eventuell nicht so einfach ist, nicht-europäische Models zu finden offenbart deinen Gedanken, dass eine dunkelhäutige Person nicht Finn*in (oder Europäer*in) sein kann und exkludiert so (wenn sicherlich auch unbeabsichtigt, ich möchte dir hier wirklich keine böse Absicht unterstellen!) Menschen. Es ist wichtig, dass wir uns dieser gedanklichen Muster bewusst sind!